Systemische Supervision: Ein praktisches Beispiel
Supervision: Ein praktisches Beispiel aus Sicht systemischer Beratung und Coaching

Hintergrund: Was ist Supervision?
Supervision ist ein strukturierter Prozess, bei dem eine qualifizierte Supervisorin oder ein Supervisor Fachkräfte dabei unterstützt, ihre beruflichen Erfahrungen zu analysieren und neue Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Ähnlich wie systemische Beratung fokussiert sie auf Beziehungen und Kontexte, während sie Elemente aus Coaching integriert, um persönliche und berufliche Ziele zu fördern. Supervision dient der Reflexion von Arbeitsprozessen, der Verbesserung der Zusammenarbeit im Team und der persönlichen Weiterentwicklung. Dabei steht nicht die Bewertung, sondern die Förderung von Selbstreflexion und Problemlösung im Vordergrund.
Supervision kann in verschiedenen Formaten stattfinden:
- Einzelsupervision: Eine Fachkraft arbeitet allein mit dem Supervisor, ähnlich wie in einem Coaching-Setting.
- Teamsupervision: Ein Team reflektiert gemeinsam Herausforderungen, oft mit systemischen Ansätzen.
- Gruppensupervision: Fachkräfte aus verschiedenen Kontexten tauschen sich aus.
In unserem Beispiel fokussieren wir uns auf eine Teamsupervision in einer Einrichtung der Jugendhilfe, die durch systemische Beratung und Coaching-Elemente bereichert wird.
Das praktische Beispiel: Teamsupervision in der Jugendhilfe
Der Kontext zum Fall:
In einer stationären Jugendhilfeeinrichtung betreut ein Team aus fünf Sozialpädagog:innen eine Gruppe von zwölf Jugendlichen im Alter von 12 bis 17 Jahren. Die Jugendlichen haben unterschiedliche Hintergründe, darunter Traumata, familiäre Konflikte oder Verhaltensauffälligkeiten. In letzter Zeit hat das Team bemerkt, dass die Spannungen im Team zunehmen. Es gibt Uneinigkeiten darüber, wie mit einem bestimmten Jugendlichen, Lukas (15 Jahre), umgegangen werden soll. Lukas zeigt aggressives Verhalten, isoliert sich zunehmend und bricht regelmäßig Regeln der Einrichtung. Das Team entscheidet sich für eine Teamsupervision, um die Situation zu klären, die Zusammenarbeit zu verbessern und neue Ansätze für die Arbeit mit Lukas zu entwickeln. Die Supervision wird von einer externen Supervisorin geleitet, die über langjährige Erfahrung in der Jugendhilfe sowie in
systemischer Beratung und
Coaching verfügt.

Die Supervisionssitzung
Die Supervisionssitzung findet in einem ruhigen Raum der Einrichtung statt und dauert etwa zwei Stunden. Die Supervisorin beginnt mit einer kurzen Begrüßung und klärt die Rahmenbedingungen: Vertraulichkeit, Freiwilligkeit und ein respektvoller Umgang sind zentrale Prinzipien.
1. Einstieg: Befindlichkeitsrunde
Die Supervisorin lädt alle Teammitglieder zu einer kurzen Befindlichkeitsrunde ein, eine Methode, die auch in
systemischer Beratung häufig genutzt wird. Jedes Mitglied teilt mit, wie es sich fühlt und welche Erwartungen es an die Sitzung hat. Eine Sozialpädagogin, Anna, äußert: „Ich bin frustriert, weil ich das Gefühl habe, dass wir bei Lukas nicht weiterkommen.“ Ein anderer Kollege, Max, ergänzt: „Ich möchte verstehen, warum Lukas so reagiert, und wie wir als Team besser zusammenarbeiten können.“ Die Runde hilft, die Stimmung im Team sichtbar zu machen und die Themen zu fokussieren.
2. Fallschilderung: Lukas’ Verhalten
Die Supervisorin bittet das Team, die Situation mit Lukas genauer zu schildern. Anna beginnt und beschreibt, dass Lukas oft wütend reagiert, wenn Regeln durchgesetzt werden, und sich anschließend zurückzieht. Max fügt hinzu, dass Lukas in Einzelgesprächen zugänglicher wirkt, aber in der Gruppe häufig provoziert. Eine dritte Kollegin, Sarah, merkt an, dass sie Lukas’ Verhalten als persönlichen Angriff empfindet, was sie verunsichert.
Die Supervisorin hört aufmerksam zu und stellt systemische Fragen, die aus der systemischen Beratung stammen, um die Perspektive zu weiten:
- „Wie könnte Lukas’ Verhalten aus seiner Sicht Sinn machen?“
- „Was passiert im Team, wenn Lukas Regeln bricht?“
- „Gibt es Unterschiede, wie ihr als Teammitglieder auf Lukas reagiert?“
Diese Fragen regen das Team dazu an, nicht nur Lukas’ Verhalten zu bewerten, sondern auch die Dynamiken im Team und die Interaktionen mit Lukas zu reflektieren, ähnlich wie in einem Coaching-Prozess.
3. Analyse: Reflexion der Teamdynamik
Die Supervisorin nutzt eine Visualisierungsmethode, um die Situation greifbarer zu machen. Sie bittet jedes Teammitglied, Lukas’ Verhalten und die Reaktionen des Teams auf einer Skala von 1 („sehr herausfordernd“) bis 10 („unkompliziert“) einzuschätzen. Es zeigt sich, dass die Einschätzungen stark variieren: Anna stuft die Situation als 3 ein, während Max sie mit 7 bewertet. Diese Übung, inspiriert von Coaching-Techniken, macht deutlich, dass das Team unterschiedliche Wahrnehmungen hat, was die Zusammenarbeit erschwert.
Die Supervisorin fragt weiter: „Was passiert, wenn ihr unterschiedlich auf Lukas reagiert?“ Sarah erkennt, dass ihre strenge Haltung Lukas’ Aggression verstärken könnte, während Max’ entspannter Ansatz Lukas in Einzelgesprächen zugänglicher macht. Die Diskussion zeigt, dass das Team keine einheitliche Linie hat, was Lukas verunsichern könnte.
4. Lösungsfindung: Neue Ansätze entwickeln
Die Supervisorin schlägt vor, konkrete Handlungsstrategien zu entwickeln. Sie nutzt die Methode des Brainstormings, die auch in systemischer Beratung und Coaching verbreitet ist, bei dem alle Ideen gesammelt werden, ohne sie zunächst zu bewerten. Vorschläge sind:
- Regelmäßige Einzelgespräche mit Lukas, um eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen.
- Klare, aber flexible Regeln, die mit Lukas gemeinsam erarbeitet werden.
- Ein „Cool-Down-Raum“, in dem Lukas sich bei Wut zurückziehen kann.
- Fortbildung für das Team zu traumasensibler Pädagogik, da Lukas’ Verhalten auf traumatische Erfahrungen hindeuten könnte.
Die Supervisorin moderiert die Auswahl der vielversprechendsten Ansätze. Das Team einigt sich darauf, zunächst Einzelgespräche mit Lukas zu intensivieren und eine Fortbildung zu planen. Zudem wird beschlossen, in wöchentlichen Teammeetings die Strategien zu überprüfen und anzupassen.
5. Abschluss: Reflexion und Ausblick
Am Ende der Sitzung fasst die Supervisorin die Ergebnisse zusammen und fragt: „Was nehmt ihr aus der heutigen Sitzung mit?“ Anna sagt: „Ich fühle mich entlastet, weil ich sehe, dass wir als Team an einem Strang ziehen können.“ Max ergänzt: „Ich habe verstanden, dass wir Lukas’ Verhalten nicht persönlich nehmen sollten.“ Die Supervisorin lobt das Team für die Offenheit und vereinbart eine Folgesitzung in sechs Wochen, um den Fortschritt zu reflektieren.

Nutzen der Supervision
Dieses Beispiel zeigt, wie Supervision, angereichert durch systemische Beratung und Coaching, vielseitig wirken kann:
- Selbstreflexion: Die Teammitglieder erkennen, wie ihre eigenen Haltungen die Arbeit beeinflussen.
- Teamzusammenhalt: Unterschiedliche Perspektiven werden sichtbar, und die Kommunikation wird verbessert.
- Lösungsorientierung: Konkrete Strategien werden entwickelt, die die Arbeit mit Lukas erleichtern.
- Entlastung: Die Supervision bietet einen Raum, um Frustrationen zu teilen und neue Energie zu tanken.
Supervision ist kein „Allheilmittel“, aber sie schafft Raum für Reflexion und Veränderung, was in herausfordernden Arbeitskontexten wie der Jugendhilfe essenziell ist.
Fünf weitere Beispiele für Supervision
- Einzelsupervision für eine Therapeutin: Eine Psychotherapeutin reflektiert mit einer Supervisorin ihre Arbeit mit einer Klientin, die an Depressionen leidet, um Übertragungsdynamiken zu verstehen.
- Gruppensupervision für Pflegekräfte: Pflegekräfte eines Altenheims besprechen in einer Gruppe den Umgang mit Demenzpatienten, um empathischere Ansätze zu entwickeln.
- Leitungssupervision für eine Schulleiterin: Eine neue Schulleiterin arbeitet mit einem Coach an ihrer Führungsrolle, um Konflikte im Kollegium zu lösen.
- Teamsupervision in einem Unternehmen: Ein Projektteam reflektiert Kommunikationsprobleme, um die Effizienz in einem IT-Projekt zu steigern.
- Balint-Gruppe für Ärzt:innen: Ärzt:innen analysieren in einer moderierten Gruppe schwierige Arzt-Patienten-Beziehungen, um bessere Interaktionen zu fördern.
Fünf weitere Methoden in der Supervision
- Genogramm-Arbeit: Visualisierung von Beziehungsstrukturen, um familiäre oder berufliche Dynamiken zu analysieren.
- Ressourcenorientierte Fragen: Fokus auf Stärken und Erfolge, z. B. „Was hat schon gut funktioniert?“
- Rollenspiel: Teammitglieder üben schwierige Gespräche, um neue Verhaltensweisen zu testen.
- Zirkuläres Fragen: Fragen, die andere Perspektiven einnehmen, z. B. „Was würde ein Außenstehender dazu sagen?“
- Aufstellungsarbeit: Systemische Methode, um Beziehungen oder Konflikte räumlich darzustellen und zu reflektieren.

Fazit - Supervision: Ein praktisches Beispiel
Unser Beispiel aus der Jugendhilfe verdeutlicht, wie Supervision, unterstützt durch
systemische Beratung und
Coaching, Fachkräfte dabei unterstützt, komplexe Situationen zu analysieren und konstruktive Lösungen zu finden. Sie fördert nicht nur die Qualität der Arbeit mit Klienten, sondern auch die Zusammenarbeit im Team und das persönliche Wohlbefinden der Fachkräfte. Ob in der Sozialarbeit, im Gesundheitswesen oder in anderen Bereichen – Supervision ist ein wertvolles Instrument, um berufliche Herausforderungen zu meistern. Wenn Sie selbst überlegen, Supervision,
systemische Beratung oder
Coaching für Ihr Team oder Ihre Arbeit in Anspruch zu nehmen, zögern Sie nicht, sich bei einer qualifizierten Supervisorin oder einem Supervisor zu informieren. Es könnte der erste Schritt zu einer nachhaltigen Verbesserung Ihrer beruflichen Praxis sein!
Quellen - Supervision: Ein praktisches Beispiel
- Belardi, N. (2019). Supervision: Grundlagen, Techniken, Perspektiven. München: C.H. Beck.
- Deutsche Gesellschaft für Supervision und Coaching (DGSv). (2023). Was ist Supervision? Abgerufen von www.dgsv.de.
- Schiersmann, C. (2021). Systemische Beratung und Coaching: Ein Handbuch für die Praxis. Wiesbaden: Springer.
- Von Schlippe, A., & Schweitzer, J. (2020). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.